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Italienfahrt - Ernst Haeckel

Neapel, 28. 5. 1859

Brief Nr. 24

Heute war ich zum erstenmal in Pompeji, auf das ich mich schon lange gefreut hatte. Schon mehrmals hatte ich mich mit anderen zu der Partei verabredet; immer war mir eine hübsche Seebestie, eine Thetis oder ein großer Seestern dazwischen gekommen. Heute war endlich einmal ein freier Tag, ohne Material, und so benutzte ich das schöne Wetter, um mit einem Wiener Kaufmann, Lau, nach dem klassischen Ort zu fahren. Man fährt mit der Eisenbahn am Strand hin über Portici, Torre des greco, Torre dellī Annunziata, dann in einem Halbkreis um den Fuß des Vesuv herum, an dessen Südostseite die alte Römerstadt ausgegraben ist. Da sie durch die ausgegrabene und rings aufgeschüttete Erde sowie durch junge Baumpflanzungen verdeckt ist, so wird man sie erst gewahr, wenn man die Eisenbahn verlassen hat und in die uralten Straßen selbst hineintritt. Um so überraschender ist der fremdartige, mit der gewohnten modernen Umgebung natürlich nicht wenig kontrasstierende Habitus, der hier überall ausgeprägt dem Besucher entgegentritt. Ich war durch die vielen Reste des römischen Altertums, die ich bereits auf der Reise gesehen, durch die reichen Sammlungen von Florenz und Rom, durch das hiesige Museo Borbonico, sowie durch Lekture usw. schon ziemlich auf das, was ich hier noch sehen sollte, vorbereitet, und doch wurde ich durch den Anblick des Ganzen in seiner vollen, so gut erhaltenen Wirklichkeit, durch tausend neue, interessante Einzelheiten vielfach überrascht und meine Anschauung des römischen Altertums vielfach korrigiert und modifiziert. Wie lebhaft habe ich da an Euch Lieben alle gedacht und Euch hergewünscht, um mit mir diesen Spaziergang zwei Jahrtausende rückwärts in die Menschengeschichte zu machen. Besonders hätte ich Dir, lieber Vater, diesen Genuß gegönnt und Dir gern den meinigen geopfert. Wie interessant es mir auch war, so hätte ich doch gern darauf verzichtet, wenn ich Dich statt meiner ein paar Stunden hätte herzaubern können, da ja Dein Interesse an dem Menschenleben, der Kulturgeschichte und Entwicklung das meinige bei weitem übertrifft und Du gewiß viele interessante Punkte herausgefunden hättest, die den Naturforscher nicht weiter anzogen. Wir gewöhnen uns leider nur zu sehr daran, den Menschen al pari mit den übrigen Bestien zu betrachten, wozu man hier in Neapel allerdings besonders Gelegenheit hat . . . Auch sind die Reize der Natur hier zu mächtig, als daß man viel Lust behalten könnte, sich mit Menschengeschichte abzugeben. Wie mächtig aber doch diese massenhafte Anzahl wohlerhaltener Reste des römischen Altertums, dieses verkörperte Stück uralter Geschichte selbst auf das weniger empfängliche Gemüt wirken, kannst du daraus sehen, daß sie selbst mich, den unmenschlichen Naturforscher, so dauernd anzogen, daß ich vom Morgen bis zum Abend in den klassichen Ruinen umherwanderte und mich zuletzt nur ungern und mit der Absicht, recht bald wieder zu kommen, davon trennte.

Ich möchte Dir gern in kurzen Zügen eine Skizze des Ganzen geben, um Dich so wenigstens etwas mit in dieses vor fast 2000 Jahren in fester Form erstarrte Leben zurückzuversetzen. Ich fürchte aber, daß es mir wie mit Rom geht, wo auch der übergroße Reichtum an prächtigen Kunstdenkmälern und interessanten Altertümern meine Fassungskraft so bemeisterten, daß ich lange Zeit brauchte, um mir nur selbst all des Großen und Herrlichen klar bewußt zu werden und dabei gar nicht einmal dazu kam, Euch ordentlich davon mitzuteilen. Fast ebenso überwältigend wirkt Pompeji, welches mein Interesse am klassichen Altertum, das ich durch Rom schon völlig erschöpft und nach allen Richtungen befriedigt glaubte, doch noch einmal von neuem belebt und in einer neuen und interessanten Richtung gefördert hat. Gewissermaßen bildet Pompeji die Ergänzung, den Schlußstein zu allem anderen vorher Gesehenen; nirgends so wie hier wird man in das altrömische Leben im großen und ganzen zurückversetzt. Noch viel mehr würde dies der Fall sein, wenn die alte Ruinenstadt in dem Zustand, in dem sie ausgegraben worden, gelassen wäre. Leider ist alles Mobile daraus entfernt, und man muß sich die Einzelheiten, die alle, zum Teil erstaunlich gut, erhalten sind, im Museo Borbonico hier in verschiedenen Abteilungen zusammensuchen. Da finden sich denn nicht nur schöne und reiche Kunstdenkmäler in größter Anzahl, sondern auch alle Gegenstände und Erfordernisse des täglichen Lebens, wie sie eben grad an dem Tage, als im Jahre 79 der Vesuv die drei Städte begrub, da vorhanden waren; also alle die verschiedenen Hausgeräte, Kleider, Mobilien, Handelsartikel, ja sogar eine Menge Lebensmittel, Brot, Fleisch, Früchte usw. in ganz deutlikch kenntlichem, obwohl natürlich mumifiziertem Zustand. Außerordentlich groß ist natürlich die Zahl der verschiedenen Kunstsachen, Mosaik- und Freskogemälde, Gemmen, Kameen, Schmucksachen, Bronzen, Statuen usw., am interessantesten aber fast die Gegenstände des täglichen Lebens, in deren Konstruktion und Ausführung bis ins kleinste Detail herab jener außerordentlich hohe, künstlerische Schönheitssinn sich kundgibt, demgegenüber unsere Jetztzeit als halb barbarisch erscheint. Alles dieses sowie alles Bewegliche ist also leider, wie gesagt, aus Pompeji entfernt; stünde es noch an Ort und Stelle, es müßte einen einzigen Anblick gewähren und mit wahrhaft märchenhaftem Zauber 1800 Jahre zurückversetzen. Tun doch schon allein die stehengebliebenen immobilen Reste in ihrer kahlen Nacktheit die erstaunlichste Wirkung. Dieses, was man jetzt noch an Ort und Stelle sieht, ist also die Stadt im ganzen, die Häuser und Straßen, übrigens noch kaum zum vierten Teil ausgegraben (welche unbegreifliche Indolenz auch nur hier in Neapel möglich ist. Ohne eine systematische Beschreibung zu versuchen, die auch kein anschauliches Bild geben würde, will ich nur das, was mir besonders auffiel, hervorheben.

Am meisten überrascht im allgemeinen der außerordentlich hohe Schönheitssinn, mit dem alle, auch die gewöhnlichsten und kleinsten Privathäuser ausgeschmückt sind, was sich einerseits in den Mosaiken der Fußböden usw., andererseits in den Freskomalereien der Wände besonders zeigt. Was die letzteren betrifft, so haben sie mich sehr überrascht, da ich mir nicht im entferntesten einen so hohen Begriff von der Malerei der Alten gemacht hatte. Bei uns hört man so wenig davon und sieht noch weniger, in unseren Museen fast nichts. Auch in Rom hatte ich nur wenig gesehen, darunter allerdings eines der schönsten, die Aldobrandinische Hochzeit, in der Bibliothek des Vatikan. Hier dagegen finden sie sich zu Hunderten beisammen, und zwar alle in derselben sehr gefälligen und graziösen Manier ausgeführt. Manche Skizzen sind wahrhaft genial, eine große Wirkung mit ein paar leichten Pinselstrichen erzielt. Die Farben sind alle sehr wohl erhalten und sprechen auch durch den warmen, dabei aber sanften und gleichmäßigen Ton sehr an. Die Gegenstände der Wandgemälde sind meist Geschichten aus ihrer herrlichen Mythologie, auch aus den alten Dichtungen und Historien, daneben auch viele Darstellungen aus dem damaligen öffentlichen und privaten Leben, das an dem alles so mächtig anzieht. Dabei ist überall Maß gehalten, und nirgends tritt Überladung oder Disharmonie hervor. Entsprechend der Hauptgemälde, welche die Wände, Decken und Nischen schücken, sind auch die zahlreichen Arabesken und Verzierungen, welche dazwischen und im Umkreise angebracht sind, durchgängig mit demselben edlen, einfachen und doch so reichen und mannigfaltigen Schönheitssinn ausgeführt; selbst in den kleinsten Arabesken und Zieraten überall ein leichter, gefälliger Schwung, eine ungezwungene, natürliche Grazie, gegen die die steifen, plumpen Klecksereien unserer modernen Stubenmaler und Tapetenfabrikanten einen recht jämmerlichen Abstich bilden.

Ebenso reizend sind die unvergänglichen Mosaikgemälde und die einfachen Mosaikarabesken, mit denen der Boden der Häuser geschmückt ist. Dieser ist, wie die vertikalen Mauern, meist vollkommen erhalten. Dagegen ist überall das Dach und die Decke natürlich eingestürzt, so daß oben alle offen stehen. Nur an sehr wenigen ist auch das zweite Stockwerk erhalten (dreistöckig waren fast gar keine). Das schönste von diesen ist das des Diomedes, wo man noch in all den zahlreichen kleinen Räumen der beiden Stockwerke umhersteigen kann. Dies liegt am äußersten Westende der berühmten Gräberstraße, die beiderseits mit den schönen viereckigen, turmartigen Grabmonumenten (Kolumbarien) geschmückt ist, in denen die Asche der Toten in Krügen aufbewahrt wurde. Der Umfang der Häuser ist im ganzen gering und noch kleiner sind verhältnismäßig die einzelnen Zimmer, was sich aus der großen Anzahl derselben in jedem einzelnen Haus erklärt, da die alten für jeden Zweck ein besonderes Zimmer hatten, zum Besuchempfangen, für Geschäftsangelegenheiten, für Essen, Trinken, Schlafen, für die Kinder, Frauen, das Gesinde usw. Dazu nimmt ein großer Teil des Hauses der Hofraum mit dem Regenbassin, oft von zierlichen Säulenhallen umkränzt, weg. Die Türen und die mit dickem, grünem, grobem Glas geschlosenen Fenster sind sehr klein. Auch die Außenseite ist meist schön geschmückt, die Mauersteine mosaikartig gesetzt oder zierlich bemalt. Ebenso klein als die Häuser, so schmal sind durchschnittlich die Straßen, und in dieser Beziehung sind die modernen Städte weit vorzuziehen. Mit Licht und Luft sind sie früher nicht verschwenderisch umgegangen. Sehr schön ist aber wieder der allgemeine Wasserreichtum, die Wasserleitungen, Brunnen und Bäder, die kleinem Hause mangelten.

Das Straßenpflaster ist sehr gut, wie auch im heutigen Italien (hier in Neapel ist das Pflaster gradezu das Beste, was es gibt); große, platte, polygonale Quadern, an den breiten Straßen auch Trottoirs, zum Teil aus Asphalt oder mit Mosaik eingelegt. In der Mitte der Straßen tiefe Rinnen für die schmalen Wagengeleise. Vor den Toren, die die breite, doppelte Mauer im Bogen durchbrechen, Gasthäuser und Pferdeställe in Rundbogengängen.

Von den Privathäusern ist größtenteils ihre Bestimmung noch sicher nachzuweisen, zum Teil schon aus den daselbst gefundenen Gerätschaften und aus der ganzen Einrichtung. So sind die Bäckereien, Getreidemühlen, Barbierstuben, Materialläden, Apotheken, Kneipen usw. noch deutlich kenntlich. In den Läden und Kneipen sind noch die kolossalen tönernen Gefäße und die schönen, roten Krüge, die zur Aufbewahrung von Öl, Wein usw. dienten, die Gestelle für die Flaschen usw. wohl erhalten. Nicht weniger interessant als die Privathäuser sind die öffentlichen Gebäude und Plätze, obwohl deren Einrichtung und Bau auch schon aus andern alten Ruinen wohlbekannt ist. Doch ist ihre Vereinigung, ihr Verhältnis zum Ganzen, auch nirgends so schön wie hier zu übersehen.

Von den öffentlichen Plätzen ist das Forum civile der schönste und größte, ein langes Rechteck, von einer Säulenhalle, mit Statuen zwischen den Säulen, umgeben, ringsum Magistratsgebäude, Magazine und Tempel. Durch ein Vestibül damit verbunden ist die fast 200 Fuß lange, 70 Fuß breite Basilika mit prächtigen Pilastern und Säulenreihen, entweder ein Tempel oder eine große öffentliche Gerichtshalle, an einem Ende noch unterirdische Grotten (Gefängnisse). Von den öffentlichen Gebäuden ist das wohlerhaltene Amphitheater das größte, dessen ganze Einrichtung, die unterirdischen Behälter der wilden Tiere, die Bogengänge für die Gladiatoren, die verschiedenen Rangstufen der Sitze ringsumher, man sehr hübsch übersieht. Die Stufenreihen sind zum Teil noch ganz erhalten, die untersten für die Leute ersten Ranges, dann mehrere Reihen für Kaufleute und Militär, dann für die übrigen Bürger, über diesen für den Plebs und zu allerletzt ein Kreis von bedeckten Ranglogen. Rings öffnen sich über 100 verschiedene Ausgänge. Das Oval der Arena mit den Galerien ringsumher sieht besonders von oben sehr hübsch aus, von wo man auch eine prächtige Rundsicht in die schöne Umgebung Pompejis hat; im Westen ganz nah der Vesuv mit seinen ungeheuren, dunkelbraunen nackten Lavafeldern, südlich der reizende Golf, von Castellammare und Torre dellī Annunziata bekränzt, vor denen das malerische Felseiland Novigliano mit Ruinentrümmern liegt, weiterhin die malerischen Küsten von Sorrent bis Cap Campanella hin und zuletzt Capri; im Osten und Norden die üppige, unserer "goldenen Aue" vergleichbaren Campagna felice, mit reichen Gärten, Feldern und Dörfern, aus der schroff die zackige, steile und zum Teil bewaldete Gebirgskette des Monte Angelo sich erhebt, in deren Schluchten man tief hineinsieht.

Auf dem oberen Randstück der höchsten Theatergalerie umherkletternd, wurde ich noch durch den Fund von zwei prächtig duftenden und gemalten Orchideen (einer Orchis und einer Ophrys) erfreut. Von da gingen wir zu den beiden andern Theatern, dem tragischen und dem komischen, dicht nebeneinander gelegen, die ebenfalls mit ihrer ganzen Einrichtung, der sehr schmalen Szene mit dem stabilen Hintergrund, dem engen Orchester, dem weiten Halbrund für die Zuschauer mit den Halbkreissitzen und den Logen verschiedenen Ranges sehr wohl erhalten ist. Zwischen beiden Theatern in einer Vertiefung liegt das Forum nundinarium, wo die Jahrmärkte gehalten wurden, ringsum eine schöne, viereckige, buntbemalte Säulenhalle. Jetzt ist inmitten des Forum ein hübscher, den alten, hier stationierten Invaliden gehöriger Orangengarten, wo wir selbst auf die Bäume kletterten und uns die Orangen herunterholten.

Wir trafen hier drei andere Norddeutsche, mit denen wir nachmittag in das erste Hotel Diomède gingen und bei einer Flasche köstlichen Falernerweins und nachher dem untertrefflichen Lacrymae Christi vom Vesuv sehr vergnügt waren und der lieben, fernen Heimat viel gedachten. Wo man hier nur Deutsche trifft, hört man dieselben Ansichten und Gefühle über das geliebte Vaterland aussprechen; alle sehnen sich herzlich danach zurück, und eigentlich wohl und heimisch fühlt sich keiner hier, selbst nach jahrelangem Aufenthalt. Der Gegensatz gegen die Italiener ist aber auch in jeder Beziehung zu groß, und wo hier nur Deutsche zufällig sich zusammenfinden, werden sie schnell miteinander bekannt und repräsentieren dem Ausland gegenüber eine Einheit, wie man sie leider im Vaterland selbst nur selten trifft. Der klassische Wein, mit dem wir natürlich auch auf das Wohl der fernen Lieben die Gläser klingen ließen, machte uns recht munter, und bald hallten die einsamen, toten Straßen der Gräberstadt, das Haus des tragischen Dichters, wo wir uns niederließen, vom Klang deutscher Volkslieder wider. Gegen Abend gingen wir nochmals zu den verschiedenen Tempeln, in denen man zum Teil auch noch neu ausgegrabene kleine Gegenstände, Hausgerät, Penaten usw. sieht und dann zu dem sehr hübschen Haus der Dioskuren, der Tänzerinnen, Vestalinnen und endlich zu den öffentlichen Bädern, die bekanntlich bei den Alten eine große Rolle spielten und mit großer Bequemlichkeit und Eleganz eingerichtet waren. Auch in den meisten größeren Häusern sind noch besondere Badezimmer vorhanden. Zum Schluß gingen wir nochmals in die Basilika und auf das Forum und fuhren schließlich um 7 Uhr abends, nachdem wir 9 Stunden in dem klassischen Altertum umhergewandert waren, mit der Eisenbahn nach Neapel zurück . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 22. Juni 1999.