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Chromosomentheorie der Vererbung, Teil 1


Die gerade beschriebenen Details der Mitose und Meiose waren um die Jahrhundertwende bekannt. Darüber hinaus kannte man auch Abweichungen vom Standardschema, die zunächst unverstanden blieben.

Im Jahre 1887 stellte der Freiburger Zoologe A. WEISMANN die Keimbahntheorie auf, die eine Kontinuität des Keimplasmas über die Generationen hinweg fordert:

"Der Körper, das Soma, stirbt, das Keimplasma lebt weiter... (es) erzeugt durch seine Entfaltung die Teile des Körpers. Umgekehrt haben neue, erworbene Veränderungen des Körpers auf das Keimplasma keinen Einfluß. Es gibt daher keine Vererbung erworbener Eigenschaften."

Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde von verschiedenen Forschern (Zoologen und Botanikern), unter anderem T. BOVERI, O. HERTWIG, E. STRASBURGER und A. WEISMANN darauf hingewiesen, daß Erbanlagen auf Chromosomen lokalisiert sein könnten. Ferner wurde eine Individualität einzelner Chromosomen während des ganzen Lebens des Zellkerns postuliert.

Als die MENDELschen Regeln im Jahre 1900 wiederentdeckt und der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, schien es naheliegend, den Mechanismus der Chromosomenverteilung bei der Keimzellenbildung und die Verschmelzung zweier Kerne bei der Befruchtung mit der Verteilung von Merkmalsanlagen auf die Nachkommenschaft in Einklang zu bringen, denn auch nach den Mendelschen Vorstellungen wurde eine Art Reduktion (der Anlagen) gefordert.

W. S. SUTTON und T. BOVERI 1903/04 faßten die in der Luft liegenden Vorstellungen zur Chromosomentheorie der Vererbung zusammen. Sie blieb jedoch noch auf Jahre umstritten, denn ein schlüssiger Beweis ließ auf sich warten. E. STRASBURGER schrieb 1909:

"Die Studien über die Vererbung zeigen nun, daß die nach den Mendelschen Regeln sichtbare Erscheinung ganz dem entsprechen, was sich mikroskopisch bei der Kernteilung und Kernverschmelzung an den Chromosomen beobachten läßt."

Im "Lehrbuch der Botanik" wurden Mitose und Reduktionsteilung einerseits und Vererbung andererseits durch verschiedene Autoren bearbeitet. STRASBURGER, der bis zur 11. Auflage (1911) den morphologischen Teil, und damit auch die Kernteilung beschrieb, ging mit keinem Wort auf die Beziehung zu den Vererbungsgesetzen ein. Der Physiologe L. JOST schrieb in dieser (und in der 12. Auflage 1913) noch:

"Trotz vieler Hypothesen und Spekulationen wissen wir über die materielle Beschaffenheit dieser "Anlagen" nichts Sicheres, noch weniger über die Art und Weise, wie sie den Entwicklungsgang beeinflussen...."

Erst in der 13. Auflage (1917) folgte:

"Daß diese Anlagen an die Chromosomen des Zellkerns gebunden sind, ist wahrscheinlich, über die Art und Weise aber, wie sie den Entwicklungsgang beeinflussen, wissen wir nichts. . ."

Soweit der Stand der Dinge zu Beginn des Jahrhunderts. Wir kommen auf die Beweise der Chromosomentheorie später zurück. Zunächst mußte geklärt werden, welche weiteren Veränderungen an Chromosomen möglich sind und welchen Einfluß solche Veränderungen auf Genotyp und Phänotyp haben.


© Peter v. Sengbusch - b-online@botanik.uni-hamburg.de