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Chromosomen; Chromosomentheorie (Teil II)




In einer ersten Phase der Chromosomelforschung wurden die Mechanismen der Mitose und Meiose aufgeklärt und die einzelnen Phasen charakterisiert. Die Übereinstimmung zwischen Verteilungsmuster und genetischen Daten machte die Annahme wahrscheinlich, daß Chromosomen Träger von Erbanlagen (Genen) seien.

Dennoch wurde die Chromosomentheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur von wenigen akzeptiert und insgesamt eher skeptisch betrachtet. Den eigentlichen Durchbruch erzielte sie, als die Individualität einzelner Chromosomen erkannt war und verschiedene Änderungen im cytologischen Bild mit genetischen Änderungen in Einklang gebracht werden konnten.

Entscheidend war dabei die Wahl eines geeigneten Versuchsobjekts, und als solches erwies sich die Fruchtfliege Drosophila melanogaster, die von T. H. MORGAN (Columbia University, New York) um 1910 in die genetische Forschung eingeführt wurde. Sie bietet u.a. folgende Vorteile:

  1. Die Generationsdauer beträgt nur 14 Tage.
  2. Es können Tausende von Individuen auf kleinstem Raum (in Kulturgläsern auf Regalen) gehalten werden.
  3. Wegen der hohen Individuenzahl ist die Chance, Mutanten (=Individuen mit veränderten erblichen Eigenschaften) zu identifizieren und zu selektieren, relativ hoch.
  4. Drosophila besitzt n=4 Chromosomen. Das X-Chromosom ist vom Y-Chromosom deutlich verschieden.
  5. Drosophilalarven enthalten in verschiedenen Organen (z.B. in der Speicheldrüse) spezialisierte Chromosomen, die Riesenchromosomen. Sie sind ideal zum Studium von Veränderungen der Chromosomenstruktur.

Es gibt keine Pflanze, die alle diese Bedingungen erfüllt. Die Generationsdauer höherer Pflanzen ist durchweg viel länger. Selten lassen sich pro Jahr mehr als zwei Generationen testen. Pflanzen haben einen hohen Platzbedarf, und deshalb sind Experimente mit ihnen nicht nur zeit-, sondern vor allem auch kostenaufwendig.

Viele Pflanzen, vor allem Monokotyledonen, verfügen zwar über größere, lichtmikroskopisch leichter sichtbare Chromosomen als Drosophila. Riesenchromosomen hingegen wurden nur ausnahmsweise in einigen hochspezialisierten Zellen weniger Pflanzenarten nachgewiesen (so z.B. in den Suspensorzellen der Bohne Phaseolus coccineus). Es liegen bis heute keine für die Grundlagenforschung wichtigen Ergebnisse vor, die an pflanzlichen Riesenchromosomen erarbeitet worden sind.

Auch wenn es sich hier um ein Botaniklehrkonzept handelt, müssen einige wenige - grundlegende - Ergebnisse der Drosophila-Forschung behandelt werden. Dazu gehören:

der Nachweis der Geschlechtschromosomen und der geschlechtsgebundenen Vererbung
der Nachweis, daß Gene in linearer Anordnung auf Chromosomen lokalisiert sind,
der Nachweis struktureller Veränderungen von Chromosomen (Chromosomenmutationen) und
der Nachweis der Korrelation zwischen Genkarte (aufgestellt aufgrund von Ergebnissen aus Kreuzungsexperimenten) und der Chromosomenstruktur.

Die wesentlichen Aussagen konnten später auch für Pflanzen verifiziert werden. Als Objekt der Wahl erwies sich vielfach der Mais (Zea mays). Wegen seiner hohen wirtschaftlichen Bedeutung, vor allem in den USA, standen genügend Geldmittel und Versuchsflächen zur Verfügung, um die Versuche im notwendigen Umfang durchzuführen. Rentiert haben sich die Ausgaben allemal, denn bei kaum einer Kulturpflanze sind innerhalb so kurzer Zeit (wenige Jahrzehnte) derart hohe Ertragssteigerungen durch konsequente Anwendung genetischen Grundlagenwissens zu verzeichnen gewesen.


© Peter v. Sengbusch - b-online@botanik.uni-hamburg.de