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Italienfahrt - Ernst Haeckel

Rom, 1. 3. 1859.

Brief Nr. 4

 . . .Nirgends kann man wohl den Vergleich zwischen dem heidnischen Altertum und dem christlichen Mittelalter so umfassend, allseitig und unmittelbar anstellen, wie hier in Rom, und nirgends wird er gewiß so zum Vorteil der ersteren ausfallen wie hier. Man sehe nur die herrlichen Werke der bildenden Kunst, mit denen die alten Griechen und ihre Nachahmer, die Römer der Kaiserzeit, diese Wunderstadt geschmückt haben, diese schönsten Erzeugnisse edelster, menschlicher Kunst - und dann sehe man, die die Päpste mit den Scharen der christlichen Barbaren alles angewandt haben, um diese Heiligtümer zu schänden, ihre Schönheit zu vernichten, ihre Poesie zu zerstören. Und was haben sie an ihre Stelle gesetzt? Rohe, unschöne Machwerke und verschnörkelten Zopf. An Stelle der wunderschönen Sagen des klassischen, hellenischen und römischen Altertums, in denen überall Maß, Schönheit, Größe, Erhabenheit wie an einem vollendeten Marmorbild entgegentreten, eine unschöne Mythologie voll häßlicher Zerrbilder, eine Sammlung voll exklusiver - katholischer - Dogmen, die ebenso anmaßend und ausschließlich als unwahr und unmöglich sind. Sind nicht die Götter und Heroen der Griechen, wie wir sie aus dem Homer kennen, tausendmal edler, schöner, besser, wahrer als alle die Heiligen des christlichen Kalenders? Ich für meinen Teil ziehe die ersteren ebenso vor, als mir eine einzige, vollendete Statue des Apollo oder der Athene, wie man sie hier dutzendweis findet, tausendmal lieber ist als das zehnfache Kontingent von Madonnen, von gemarterten Heiligen usw. Oder wenn man nicht überzeugt ist, vergleiche man nur dies jetzige römische Volk mit seinen Vorfahren. Können sie es noch wagen, sich neben letztere zu stellen? Solches physiche und moralische Elend, solche Verkommenheit, solcher Mangel an Kenntnissen, Bildung, Humanität haben die alten Römer und Griechen kaum in ihrer rohesten Zeit gehabt. Wahrlich, wenn jemand wieder über unser Deutschland und seine Bewohner schimpft, soll man ihn nach Italien schicken; er wird sich schon in den ersten 14 Tagen nach Deutschland wie nach einem Elysium zurücksehnen . . .

Wenn ich von dieser Reise schon weiter nichts hätte, als bloß diesen Aufenthalt in Rom, einerseits diesen entzückenden Einblick in die herrliche Wunderwelt des klassischen Altertums, andererseits diese abschreckende Bekanntschaft mit der verzerrten Barbarei des christlichen Mittelalters und dann diese höchst elende und bedauernswerte, ebenso abschreckende als entartete Gegenwart - wenn diese Erfahrungen allein die Frucht meiner Reise wären, so würde ich mich dadurch schon hinlänglich belohnt finden. Denn nie hat der ernste Wille, stets nur nach allem Guten, Wahren und Schönen zu streben, so tief und fest in meinem ganzen Wesen Wurzel gefaßt als hier; nie habe ich so tief ergriffen von der Bestimmung mich gefühlt, dem Ideale edler Menschlichkeit nachzustreben als hier. In diesem Sumpfe vertierter Menschheit, wo Unsittlichkeit und Verdorbenheit in tausendfacher Gestalt stündlich einem gegenübertritt, hier erst lernt der Deutsche sich selbst schätzen, und das Leben schätzen, das er zu dem Zwecke verwenden und ausbauen kann, um diesem Elend entgegenzuwirken, um Wahrheit, Bildung und Menschlichkeit zu verbreiten. Und keiner kann dies wohl mehr als der Naturforscher. Wenn die Naturwissenschaften hier erst einmal sich Bahn brechen, wie werden sie da die Tenne fegen! Bloß der Anblick der Faulenzerei und Trägheit, die hier überall herrscht, reizt so zur Arbeit und Tätigkeit, daß ich mich wahrhaft nach Tätigkeit sehne und eilen werde, möglichst bald nach Neapel zu kommen. -

Doch ich sehe mich da auf einmal mit Schrecken mitten in einer Predigt, zu der mich die Begeisterung für das klassische Altertum und der Widerwille gegen das sogenannte christliche Mittelalter und die moderne Neuzeit hingerissen hat. Nur das noch, daß dasjenige, was mich nächst dem klassischen Altertum - den griechischen Statuen und den römischen Bauten - am meisten entzückt hat, die herrliche Lage und Umgebung Roms ist, die ich mir nicht halb so schön vorgestellt hätte. Die Sabiner-, Latiner- und Albanergebirge, die den Hintergrund im Osten bilden, haben überaus schöne Formen und Farben, zu dem die Öde der Campagna und die äußerst malerische Gestaltung der Siebenhügelstadt selbst in der schönsten Weise kontrastiert. Ich kann mich an diesem herrlichen Landschaftsgemälde, das sich immer von neuen Seiten dem Auge darbietet, nicht satt sehen . . .

 . . . Mein Lebenslauf ist in diesen ersten 14 Tagen in Rom sehr regelmäßig gewesen, und dies ist nach dem unruhvollen dreiwöchentlichen Umhertreiben auf der Reise sehr angenehm. Im allgemeinen ist jeder Tag so eingeteilt: Um 6 Uhr (oft auch schon um 5 1/2) stehe ich auf und entwerfe nach meinen beiden Reisehandbüchern (Förster und Lossow) den Plan für die Aufgaben des Tages. Um 8 Uhr gehe ich über den Monte Pincio, die spanische Treppe hinunter (die Du noch aus dem Panorama von Enslin kennst) in die nahe Via Condotti, wo ich in dem altberühmten Café Grece antico frühstücke, woselbst ich immer viele Künstler und Deutsche treffe. Den edlen Moccatrank mit ausgezeichneter Sahne schlürfe ich fast tropfenweise hinunter, da es der ausgezeuchneteste Kaffee ist, den ich je getrunken, ein wahrhaft lukullischer Genuß und der einzige, der meinem Kadaver hier zugute kommt. Da Du weißt, welchen hohen Wert ich auf den Kaffee als wesentliches Erfrischungs- und Stärkungsmittel lege, wird Dir diese Apotheose begreiflich erscheinen, und ich wünsche nur, daß mir meine künftige norddeutsche Hausfrau nur halb so guten immer präparieren möge. Gewöhnlich esse ich dazu zwei Maritozzen, ein leichtes, gutes, römisches Nationalbrot, und lese oft die "Augsburger Allgemeine Zeitung". Um 9 Uhr gehe ich in das Café am Ende der Via Angeli Custode und hole Dr. Diruf und die drei Damen ab, die dort wohnen, die beiden Schwägerinnen Dr. Tirufs, Fräulein Angelica und Helisena Girl aus Augsburg, und Frau Bloest, die Frau eines Schweizer Hauptmanns, eine geborene Mannheimerin. Mit diesen verlebe ich dann den ganzen Tag in der angenehmsten Weise.

Den Vormittag bringen wir gewöhnlich mit Besichtigung einer größeren Gemälde- oder Antikensammlung, eines Palastes oder mehrerer Kirchen hin, während wir am Nachmittag meistens einen Ausflug in die nächste Umgebung machen. Die Umgebung Roms haben wir bisher in ihrem vollen Farbenglanz gesehen, obwohl der Frühling eigentlich noch nicht mit frischem Grün da ist. Aber die ungetrübte Kraft der vollen Sonne malt hier Stadt, Campagna und Berge mit so wundervollen Farben, namentlich roten und violetten Tönen an, daß man bei uns im Norden nur eine schwache Vorstellung davon machen würde. Doppelt schön sehen die Berge dabei aus, weil auf den höchsten Gipfeln der Apenninen überall noch ein zusammenhängender Schneeteppich glänzt.

Jeden Tag haben wir die herrliche Lage der Stadt, mit dem Gebirge im Hintergrund, mit neuem Vergnügen angesehen. Wir sind aber auch so vom Wetter begünstigt, wie es hier im Frühjahr nur sehr selten der Fall sein soll. Mit Ausnahme eines einzigen trüben Tages hat uns diese 14 Tage beständig die volle warme Sonne vom dunkelblauen, wolkenlosen Himmel angestrahlt. Das gibt dann hier Temperatureffekte und Kontraste, die ganz wunderbar sind. Während früh bis 8 Uhr in den ersten Tagen meines Hierseins, wo eine sehr heftige Tramontana (Gebirgswind) wehte, an dem Barte des wasserspeienden Tritonen auf der Piazza Barberini dicke, fußlange Eiszapfen hingen, und abends die Hände ganz steif wurden, war es zu Mittag in der vollen Sonne so glühend heiß, daß man den Rock ausziehen mußte. Schon die Unterschiede in der unmittelbar sich begrenzenden Luft in der Sonne und im Schatten sind auffallend groß, noch mehr aber die von der Luft außerhalb und innerhalb der Gebäude. Während in den Sammlungen der großen Paläste noch eine eisige Kellerluft herrscht, wird man beim Heraustreten durch eine um 15-18 Grad höhere Temperatur überrascht. Begreiflicherweise sind diese jähen und bedeutenden Temperaturwechsel nichts weniger als gesund und namentlich Brustkranken sehr nachteilig, weshalb für diese das römische Klima lange nichts so paßt, wie es uns immer empfohlen wird. In mein freundliches, hübsches Zimmerchen scheint die Sonne tagsüber so warm hinein, daß es mir, wenn ich abends nach Hause komme, wie geheizt vorkommt und ich noch gar nicht darin gefroren habe, selbst wenn ich bis 1-2 Uhr nachts geschrieben habe. Die Existenz ist also auch in diesem Punkt weit gemütlicher als in Florenz; und ich lebe ordentlich wieder dabei auf . . .

Vielleicht erwartet Ihr diesmal eine ausführliche Schilderung des Karnevals von mir; dann täuscht Ihr Euch aber ebenso, wie ich durch das viele Gerede und Geschreibe über dies berühmteste Volksfest in Rom, ja jetzt vielleicht in der Welt, getäuscht worden bin. Im ganzen kann ich kurzgefaßt nur das Goethesche Urteil unterschreiben: "Man muß den Karneval in Rom selbst gesehen haben, um den Wunsch los zu werden, ihn jemals wieder zu sehen!" Der Karneval ist diesmal hier so überaus glänzend, wie er überhaupt nur je gewesen ist. Zum erstenmal seit vielen Jahren ist wieder das allgemeine Maskentragen und mehrere andere Freiheiten von dem französischen Stadtkommandanten General Gyon erlaubt (vielleicht in der Erwartung, daß so Skandal entstehen und dadurch das Militär Gelegenheit finden würde, sich noch weiter festzusetzen). Ferner begünstigt den Karneval ausnehmend das fortdauernd schöne Wetter sowie die in diesem Jahre außerordentlich starke Fremdenfrequenz, unter der sich viele Personen höchsten Ranges befinden. Die Umstände haben also in der Tat zusammengewirkt, um das Fest so glänzend als nur irgend möglich zu machen, und in seiner Art mag es wirklich vollkommen sein. Aber auf mich hat es trotzdem so gut wie gar keinen Eindruck gemacht, und ich habe wenigstens die Genugtuung, dasselbe von vielen meiner deutschen Landsleute zu hören. Die Erklärung liegt einfach darin, daß das ganze Fest unserem norddeutschen Nationalcharakter ebenso zuwider ist, wie das ganze italienische Volksleben überhaupt. Das ganze Vergnügen besteht darin, daß die Leute sich gegenseitig entweder mit Blumensträußchen oder mit Konfetti, Gips und Mehl bewerfen. Das einzige, was mich dabei interessiert hat, sind teils die schönen, phantastischen Nationaltrachten aus der Campagna und dem Gebirg, die man dabei in Menge sieht, teils die schönen Gesichter, die in ebenfalls nicht geringer Anzahl sich sehen lassen. Doch gehören dieselben, wenigstens beim weiblichen Geschlechte, zur größeren Hälfte den Engländern an, die überhaupt jetzt durch ihr großes Karnevalskontingent und ihre reichen Mittel die eingeborenen Römer fast zu verdrängen anfangen. Unter den vielen Engländerinnen, die die Balcone zieren, sind in der Tat nicht wenige Gesichter, die sich durch edlen, regulären Schnitt und schönen Ausdruck den besten Marmorgestalten des griechischen Altertums an die Seite stellen könnten. Aber auch unter den Römerinnen sieht man manche sehr schöne Gesichter von charakteristisch südlichem Typus, obwohl viel weniger, als man gewöhnlich denkt. Am reizendsten sehen die kleinen, 10-15jährigen Buben aus der Campagna aus, mit hohem, spitzem Filzhut, langen braunen Haaren bis über die Schultern herab, aus denen dunkelbraune, glänzende, große Augen und ein allerliebstes Gesicht aus dem Ziegenfell oder aus der blauen Jacke hervorgucken; dazu gewöhnlich halbe Hosen mit langhaarigem Ziegenfell, lederne Schienen für die Unterschenkel und Sandalen. Aber auch die alten, langbärtigen Männer in ähnlicher phantastischer Räubertracht, aus der Campagna und aus dem Gebirg, sehen nicht minder malerisch aus. Die Mädchen vom Lande sind meist sehr malerisch in Weiß, Rot und Gold gekleidet.

Der Hauptschauplatz des Karnevals ist der Corso,die lange, enge Hauptstraße der Stadt, die von der Porta di Popolo bis zur Piazza di Venizia geht und in welcher zwei ununterbrochene Wagenreihen nebeneinander auf und ab fahren. Die schmalen, übrigbleibenden Zwischenräume sind mit Fußgängern, größtenteils Masken, vollgestopft. Alle Fenster und Balkone der festlich geschmückten (namentlich mit roten Teppichen behangenen) Häuser des Corso sind bis obenhin mit Zuschauern voll, welche von oben herabwerfen und von denen zu Wagen zu Fuß unter geworfen werden. Das alles hat natürlich nur Sinn, wenn man hier viele Bekannte hat. Insbesondere ist dazu aber, wie mir heute ein Maler ganz richtig auseinandersetzte, nötig, daß man, wie es hier bei jedem anständigen Römer aus den höheren Ständen Sitte ist, außer seiner Frau oder Braut wenigstens noch zehn verschiedene Liebschaften unterhält, mit denen man dann während des Karnevals in der verschiedensten Weise anknüpft und weitere Verhältnisse ausspinnt. Des Pudels Kern läuft dann wesentlich auf ein kompliziertes Intrigenspiel hinaus. So etwas kann einen Italiener wohl in Entzücken versetzen; für uns Nordlänger ist es aber, Gott sei Dank! gar nichts, und was ich speziell hierbei für Gedanken gehabt habe, könnt Ihr Euch denken. Da ich natürlich keinen Menschen von all den Corsoherumläufern und Prinzessinen kenne, und noch weniger Lust habe, Bekanntschaft anzuknüpfen, so beschränkte ich mich rein auf objektives Beobachten des höheren Blödsinns, wobei mir aber bald so nüchtern und hohl zumute wurde, daß ich, nachdem ich zwei Nachmittage pflichtmäßig ausgehalten, die andern mit vielen Vergnügen drangab und an das Herz meiner lieben Natur, auf die Berge, flüchtete . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 21. Juni 1999.